Nach89.org - eine multimediale Reise


Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen blickt nicht nur zu den runden Jahrestagen der Öffnung der Mauer oder der deutschen Einheit auf die Ereignisse aus den Jahren 1989/1990. Viele Veranstaltungen und Publikationen hat es bisher dazu gegeben. Die Website www.nach89.org bündelt und dokumentiert nun Beiträge, wissenschaftliche Analysen und Interviews zur „Wendezeit“ und den folgenden Jahren. Mit einem zeitlichen Abstand wird auf die Ereignisse geblickt, die ein ganzes Land und das Leben vieler Menschen umkrempelten. Dabei gibt www.nach89.org verschiedenen Perspektiven Raum: wissenschaftlichen Perspektiven, gewerkschaftliche Perspektiven, feministische Perspektiven aber auch den Perspektiven Betroffener. Audio-und Videobeiträge erzählen von Abwicklung in Betrieben und an Hochschulen, von erstarkendem Rassismus, einer Re-Traditionalisierung von Geschlechterverhältnissen und vielfach auch einer Missachtung ostdeutscher Biografien. Sie erzählen aber auch vom Hinterfragen eigener Sichtweisen und neuen Wegen, die sich Menschen erschlossen haben. Schauen Sie sich gern auf unseren Seiten um. Wir freuen uns über Ihre Hinweise zu Geschichten, Beiträgen, Fotos oder anderen Dokumenten, über Ihre Anmerkungen und Kommentare.



Prof. Dr. Raj Kollmorgen

Die Erfahrungen, welche die ehemaligen Bürger*innen der DDR in der „Wendezeit“ machen mussten, hallen bis heute nach. Dass der Osten zu dem wurde, was er heute ist, liegt zu einem großen Teil in der Entwicklung ab 1989 begründet. Denn die Ostdeutschen sehen die parlamentarische Demokratie und die Marktwirtschaft bis heute in einem besonderen Licht und das hängt natürlich auch besonders mit der Art und Weise zusammen, wie sie diese kennenlernten.



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Treuhand


„Die größte Vernichtung von Produktiveigentum in Friedenszeiten" (Christa Luft)

„Das volkseigene Vermögen ist zu privatisieren“ hieß es im ersten Artikel des Treuhandgesetzes, welches im Juni 1990 von der Volkskammer beschlossen wurde. Die damals CDU geführte Regierung de Maizière beabsichtigte mit diesem Gesetz die schon am 01. März 1990 gegründete Treuhandanstalt im Sinne des Neoliberalismus für die vermutlich größte Privatisierungswelle der deutschen Wirtschaftsgeschichte zu nutzen. Die Idee für eine Treuhandanstalt kam ursprünglich tatsächlich nicht von westdeutschen Wirtschaftsliberalen, sondern von ostdeutschen Bürgerrechtlern, welche für Demokratie Jetzt am zentralen Runden Tisch mit der letzten SED-Regierung unter Modrow verhandelten. Gerd Gebhardt schlug hier vor das Volkseigentum in Form von Anteilscheinen an die Bürger*innen der DDR auszugeben. Grundgedanke des Beschlusses des runden Tisches war jedoch eher der Schutz des Volkseigentums vor windigen Investoren als die totale Privatisierung. Mit dem Wahlsieg der Ost-CDU am 18. März 1990 war allerdings der weitere Kurs der Wirtschaftspolitik in den neu gegründeten Ländern nicht mehr aufzuhalten: „Experten“ aus der westdeutschen Wirtschaft sollten die Behörde übernehmen und gemäß des damals etablierten Dogmas des Thatcherismus die volkseigenen Betriebe, Kombinate, landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaften und den öffentlichen Wohnraum möglichst schnell an Privatunternehmen verkaufen. Hierbei hatte die Behörde bei der Entscheidungsfindung über die 12.000 Unternehmen mit ihren über vier Millionen Beschäftigten großen Spielraum und wurde nur oberflächlich vom Finanzministerium kontrolliert.  Die eiserne Lady Birgit Breuel, welche die Treuhandanstalt in den entscheidenden Jahren 1991 bis 1995 leitete, schwor ihre Mitarbeiter*innen darauf ein, dass Unternehmen, welche staatlich kontrolliert werden, per se nicht produktiv sein können und möglichst schnell in die Hände von „Profis“ kommen müssen.  Mit diesem Kurs wurde allerdings nicht das erreicht, was Helmut Kohl mit seinen „blühenden Landschaften“ den Ostdeutschen versprochen hatte, die Bilanz ist viel eher vernichtend: Von den vier Millionen Arbeitsplätzen gingen 2,5 Millionen verloren, etwa 3.700 Betriebe wurden vollständig liquidiert. Hatte die Treuhand 1990 als größte Holding der damaligen Wirtschaftswelt noch das Volksvermögen der DDR in Höhe von 924 Milliarden DDR-Mark übernommen, schloss sie Ende 1994 mit einem Minus von 270 Milliarden DM. Keine ostdeutsche Familie hatte keine Arbeitslosigkeit, Vermögensverluste und den Wegzug gen West von Familienangehörigen und Bekannten zu beklagen, so dass Dietmar Barsch diesen Vorgang auch das „Treuhand-Trauma“ nannte. Doch gegen diesen historisch einmaligen Vorgang gab es auch Widerstand, der in manchen Orten auch von Erfolg gekrönt wurde: So konnten die Chemiearbeiter*innen in Leuna Helmut Kohl dazu zwingen, den Verbleib des Chemiewerkes versprechen zu müssen. Die Metallarbeiter*innen des Edelstahlwerkes Freital besetzten sogar den Flughafen Dresden, damit die Maschine des damaligen Ministerpräsident Biedenkopf nicht landen konnte. Mit Erfolg: Biedenkopf musste mit Bonn über den Erhalt des Werkes verhandelt, sodass das Werk letztlich erfolgreich gerettet wurde. Und der Name der kleinen Thüringer Bergarbeiterstadt Bischofferode hallt noch heute nach, wenn es um den vermeintlichen Erfolg der Treuhandpolitik geht. Die hier vorliegende Webdokumentation legt frei, welche Wunden die kompromisslose Durchsetzung der Treuhandpolitik aufgerissen hat. Durch die Darstellung der eindrucksvollen Personenporträts wird aber auch aufgezeigt, wie Menschen sich nicht von den Destruktionen dieser Politik haben unterkriegen lassen, sondern bis heute für eine lebenswerte Zukunft einstehen. Diesen Menschen ist diese Seite gewidmet.

Wissenschaft

 
Umbruchserfahrungen und Geschlechterverhältnisse

In der aktuellen historischen Bearbeitung wie auch in der zivilgesellschaftlich-kritischen Auseinandersetzung mit dem politischen Umbruch 1989/90 ist ein Trend hin zu einer „langen Geschichte der Wende“ zu beobachten. Nicht nur die Herbstereignisse 1989, sondern auch ihre Vorgeschichte und die bis heute wirkmächtigen Konsequenzen der gesellschaftlichen Transformation in Ost- wie auch dem gesamten wiedervereinigten Deutschland, werden damit auch in ihrer lebensweltlichen Dimension in den Blick genommen. Insbesondere für jüngere Menschen, die die DDR gar nicht oder kaum noch selbst erlebt haben, geht dies einher mit einem neuen Interesse für ihr persönliches familienbiografisches, wie auch gesamtgesellschaftliches Erbe der DDR und die Art und Wiese von Transformationserfahrungen auch nach 1989. Unsere neuen Filme und Veranstaltungen sollen einen Anknüpfungspunkt bieten, „ältere“ wie „jüngere“ Erfahrungsschätze und Perspektiven auf gesellschaftliche wie biografische  Umbruchsprozesse zu geben und alltägliche wie auch abstrahierende Einblicke in die (ost-)deutsche Zeitgeschichte zu ermöglichen.   Die Interviews und Videofilme sind entstanden im Rahmen unseres Walter-Markov- Kolloqiums 2020. Wir haben sie mit den Projektnamen »Differenzmaschine« versehen. Mit dieser Titelwahl wollen wir den offenen Prozess deutlich machen - einer Geschichtsarbeit allgemein und zu 1989/90 im Besonderen - nicht allein mit den konventionellen Sichtweisen zu begegnen. Die ausgewählten Zeitzeug*innen und „Nachgeborenen“ ermöglichen uns einen Blick auf auch heute marginalisierte Wirklichkeiten zu werfen. Die Wiederentdeckung von Vergangenheiten stellt für uns nicht zuletzt auch eine Chance zur Wiederentdeckung von Zukunft dar. Mit dem digitalen Walter-Markov- Kolloquium wollen wir den Wandel und die Brüche in der Biografie des*der Einzelnen diskutieren und zugleich das Bild der »gebrochenen« Biografie einer kritischen Befragung unterziehen. Dreißig Jahre Abstand zu der Zeit um 1989 ermöglicht hierfür eine neue, produktive Distanz. Konsequenterweise entsteht aus unserem Interesse und begonnenem Zuhören ein zweites Kernthema – der Einfluss dieser Umbruchserfahrung auf die Geschlechterverhältnisse vor und nach 1989. Die Walter-Markov- Kolloqien der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen standen zwischen 1994 und 2009 für eine theoretische und akademische Debattenkultur. Über die Befragung des Werkes von Walter Markov (Widerstandskämpfer und Historiker an der Universität Leipzig, 1909-1993) wurden jeweils aktuelle Themen der Gegenwart diskutiert. An dieses Format wollen wir 2020 in digitaler und analoger Form anschließen. Zugleich soll damit ein neuer transgenerationeller Austausch und Lernmöglichkeiten anregt werden.


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