„Jetzt gab es einen Grund, dass es eine starke Vertretung der Arbeitnehmer brauchte“

Sylvia Kristalla über den Aufbau von Gewerkschaftsstrukturen in Nordsachsen

Die Geschichtslehrerin hat die frühen 1990er noch in besonderer Erinnerung, da sie nicht wenige historische Parallelen sah: Die Angst vor dem Bürgerkrieg im heißen Herbst 1989 ließ die Erinnerung an die Panzer vom 17. Juni 1953 hochkommen. Als ab 1989 immer mehr Menschen gen Westen flüchteten, musste sie an die Zeit vor dem Mauerbau denken, als auch viele Facharbeiter die DDR verließen. Ihr fiel aber auch auf, dass 1990 eine historische Chance verpasst wurde: Aus den beiden deutschen Staaten eine gemeinsame, bessere, freie und soziale Bundesrepublik zu machen, wie es eigentlich im Grundgesetz für den Fall der Wiedervereinigung vorgesehen war.

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Als 1990 aus „Wir sind das Volk“ auf einmal „Wir sind ein Volk“ wurde, kam dies Sylvia komisch vor: Hatte man nicht für einen freieren Sozialismus ohne Stasi, aber mit Presse- und Meinungsfreiheit demonstriert? Warum wollte man auf einmal den westdeutschen Kapitalismus haben?

Sylvia kam eigentlich aus dem Harz und wollte dorthin nach dem Studium auch wieder zurück. Da es dort aber keine Arbeit gab, blieb sie in der Region Leipzig. Ab 1981 arbeitete sie als Lehrerin, von 1989 bis 1992 war sie sogar Schulleiterin an einer Polytechnischen Oberschule (POS) in Delitzsch. Diese in der DDR vorherrschende Schulform, die das Ideal der Gemeinschaftsschule verwirklichte, wurde 1990 ebenfalls abgewickelt. Es wurde das westdeutsche dreigliedrige Modell eingeführt, welches die Kinder früh in vier (mit Förderschule) verschiedene Lehrgruppen trennt. Erst 2020 wurde in Sachsen neben den aufgetrennten Schularten auch endlich die Gemeinschaftsschule zugelassen.

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Mit den Entwicklungen, die Ostdeutschland ab der designierten Wiedervereinigung nahm , wurde Sylvia klar, dass man nun so schnell wie möglich starke Interessenvertretungen der Arbeitnehmer*innen brauchte. Sie baute in Nordsachsen die „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“ (GEW) auf, vertritt die Interessen von Lehrer*innen als Personalrätin und engagiert sich im Kreisvorstand des DGB Nordsachsen. Die erbarmungslose Politik der Treuhandzeit zeigte ihr, wie wichtig es war sich kollektiv gegen arbeitnehmerfeindlichen Entscheidungen zu wehren. Als Geschichtslehrerin weiß sie, dass soziale Verbesserungen und die Abwehr von Verschlechterungen nur erkämpft, nicht erbettelt werden können.