„1990 wurde ein impliziter Gesellschaftsvertrag geschlossen“

Der Soziologe Raj Kollmorgen (Görlitz) über die Neuordnung Ostdeutschlands durch die Treuhandanstalt

 

Die Erfahrungen, welche die ehemaligen Bürger*innen der DDR in der „Wendezeit“ machen mussten, hallen bis heute nach. Dass der Osten zu dem wurde, was er heute ist, liegt zu einem großen Teil in der Entwicklung ab 1989 begründet. Denn die Ostdeutschen sehen die parlamentarische Demokratie und die Marktwirtschaft bis heute in einem besonderen Licht und das hängt natürlich auch besonders mit der Art und Weise zusammen, wie sie diese kennenlernten.

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Der gebürtige Leipziger Raj Kollmorgen, der heute als Professor und Prorektor an der Hochschule Zittau/Görlitz wirkt, beschäftigt sich schon seine gesamte wissenschaftliche Karriere mit dem Wandel postsozialistischer Gesellschaften. Als Ausgangspunkt sieht er die Gesellschaft der DDR als eine Gesellschaft, in welcher es paradoxerweise sowohl von staatlicher Seite einen Anspruch auf Objektivierung gab, als auch ab den 1970er Jahren eine kontinuierliche Subjektivierung der Bevölkerung.

Ab 1989 passierte dann ebenfalls etwas widersprüchliches: Einerseits mussten sich die Lohnarbeitenden ab 1990 individualisieren, da ihre Arbeitsbrigaden auseinander brachen und auch oft das private Umfeld, beispielsweise durch den Wegzug von Familienangehörigen, zerfiel. Jede Person musste nun nach sich selbst sehen. Andererseits führte die Erfahrung der Betriebsschließungen dann zur Kollektivierung: Viele Lohnabhängige machten nun die selben Erfahrungen und schlossen sich auch – zumindest kurzzeitig – zu Protestgemeinschaften zusammen.

Das Amalgam dieser zwei anscheinend gegeneinander wirkenden Schübe brachte den heute vorherrschenden Bewusstseinszustand in den neuen Ländern hervor.

Die Treuhandanstalt wirkte sozusagen als Blitzableiter: Sie war eigentlich in der Institutionenordnung ein Fremdkörper und verkörperte so in der gesellschaftlichen Debatte den objektivierten Raubtierkapitalismus. Als solche lenkte sie von der Verantwortung der Bundes- und Landespolitik ab, die sich hinter der eigenwilligen Anstalt verstecken konnte. Schnell wurden so die Entscheidungen der Treuhand als “Verrat” und “Niederträchtigkeiten” abgestempelt, ohne auch die ostdeutsche Mitschuld an der Entwicklung anzuerkennen — schließlich hatten die Bürger*innen der CDU im März 1990 einen Erdrutschsieg verschafft.

Kollmorgen konkludiert, dass 1990 ein „implizierter Gesellschaftsvertrag“ geschlossen wurde. Die Ostdeutschen unterwarfen sich 1990 und gaben mit ihrer Wahl der Kohl-CDU ihre staatliche Souveränität auf, die Bundesrepublik versprach daraufhin in den neuen Ländern die sprichwörtlichen blühenden Landschaften zu schaffen. Dass dieser Vertrag so nicht eingelöst wurde, dass der Osten dem Westen bis heute wirtschaftlich nachhängt und Ostdeutsche in den bundesdeutschen Eliten bis heute unterrepräsentiert sind, führt auch dazu, dass sich viele Ostdeutsche heute um die Anerkennung ihrer Lebensleistung betrogen fühlen.